TANGER – Die weiße Stadt

 

Die Ursprünge von Tanger gehen zurück in das Dunkel einer Zeit in der sich Mythologie und Geschichte  stark verwoben. Der Sage nach war es Herkules, der griechische Halbgott, Sohn des Zeus, der mit einem mächtigen Keulenschlag Europa von Afrika getrennt haben soll und so die Meerenge schuf, in der sich die Wasser von Mittelmeer und Atlantik vermengen konnten. Herkules war es auch der seinen Rivalen, den  Riesen Antaeus erwürgte, dem die Gründung Tangers zugeschrieben wird.

Wahrscheinlich aber wurde die Stadt  irgendwann zwischen dem 12. und dem 6.Jh. v.Chr. von den Phöniziern gegründet. Zumindest ist Tanger durch sie, die zu dieser Zeit an der nordwestlichen Küste Afrikas bis hinunter nach Essaouira Handel trieben, in die Geschichte eingetreten. Nach den Phöniziern kamen die Karthager, dann die Berber Ägyptens und Tunesiens, die Römer, die Vandalen, die Byzantiner und die Araber. Letztere übten den größten Einfluss aus, islamisierten sie doch das Land innerhalb kürzester Zeit und rekrutierten im Maghreb ihre Heerscharen um die iberische Halbinsel zu erobern. Unter der Herrschaft der Almoraviden, Almohaden und Meriniden, genoss Tanger vier Jahrhunderte lang die wirtschaftliche und kulturelle Blütezeit der grandiosen maurisch-arabisch-andalusischen Zivilisation. Ab dem 15. Jahrhundert wurde Tanger wegen seiner strategischen Lage und seiner Bedeutung als wichtiger Handelsplatz immer mehr ein Spielball der europäischen Interessen: Portugiesen, Spanier und Engländer nahmen die Stadt unter ihrer Kontrolle. Nach 6jähriger Belagerung konnte 1684 Moulay Ismail, Regent des marokkanischen Herrschergeschlechts der Saadier, in Tanger einziehen. Die Engländer rückten ab, nicht ohne vorher die alten Wehrmauern zerstört und die Innenstadt niedergebrannt zu haben. 1790 musste sich Tanger erneuter spanischer Angriffe erwehren. 1844 bombardierten französische Flottenverbände die Stadt  und richteten schwere Schäden an.

 

 Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts hatten sich immer mehr Europäer in der Stadt niedergelassen, und auch wichtige Entscheidungsbefugnisse in der Stadtverwaltung übernommen. Am 31.März 1905 kreuzte Kaiser Wilhelm II mit der Yacht „Hohenstaufen“ vor Tanger auf. An Land gegangen  hielt er eine flammende Rede, in der er die deutschen Interessen an der Unabhängigkeit Marokkos unterstrich. 1923 wurde das Statut unterzeichnet das Tanger offiziell zur Internationalen Zone erklärte. Durch diese Maßnahme erlebte die Stadt einen immensen wirtschaftlichen Aufschwung, und zog als Freihandelszone Geldmärkte und Unternehmen aus aller Welt an, aber auch Abenteurer und Schmuggler. 1956, im Jahr der Unabhängigkeit Marokkos, hatte Tanger rund 150 000 Einwohner, davon etwa 42 000 Ausländer!

 

Nachdem im 19. Jahrhundert die Maler Tanger entdeckt hatten – allen voran Eugène Delacroix -, war es der 1910 geborene Musiker und Schriftsteller Paul Bowles, der eine ganze Generation  amerikanischer Poeten in die Stadt zog:  William S. Burroughs, Allen Ginsberg, Jack Kerouac , Tennessee Williams, Truman Capote. Aber keiner war der Magie von Tanger so erlegen wie Bowles, der sich intensiv mit der Literatur und Musik Marokkos befasste und  hier vor allem auch zu sich selbst fand. Er blieb schließlich ganz und starb hier 1999.

 

Tanger ist das Tor zu Marokko, aber es ist nicht Marokko. Wer das authentische Marokko sehen will – und das sollte man auch – der muss in die  faszinierenden Kasbahs der Königstädte Fes, Meknes, Rabat und Marrakesch gehen, den grünen Mittleren Atlas durchqueren, oder den schroffen Hohen Atlas, und

der sollte auch südlich des Hohen Atlas im Tal des Draa durch unvergessliche Landschaften mit ihren majestätischen Lehmburgen und den wilden Schluchten fahren .

 

Tanger war und ist eine kosmopolitische Stadt. Religiöse Toleranz ist eines ihrer Merkmale. Die christlichen und jüdischen Gemeinden konnten wie die moslemischen ihren Glauben stets frei praktizieren. Freiheit war das Zauberwort auch für die Millionäre, Geschäftemacher, Künstler und Sinnsuchenden, die sich hier niederließen und der Stadt den legendären etwas anrüchigen Ruf verschafften.

 

Der Tourismus, der in den Siebzigerjahren in Tanger boomte, hat sich längst an die Badeorte am Atlantik verlagert. Die Veranstalter haben Tanger nicht einmal mehr bei ihren Rundreisen im Programm, liegt es doch abseits der Route der Königstädte. Es gibt fast keine Flüge von Europa nach Tanger. Aber eine interessante Alternative bietet sich an: Fliegen Sie nach Südspanien und setzen Sie von Algeciras oder Tarifa mit der Fähre über! Oder wenn Sie mehr Zeit haben und eine Reise durch Marokko machen wollen, kommen Sie mit Ihrem Wagen! Es lohnt sich. Wer nicht durch ganz Spanien fahren will, kann sich in Sète in Frankreich einschiffen.

Der Putz bröckelt von den Hotels in Tanger, das Personal lässt auch Wünsche offen. Der Vorteil ist: Die Hotels sind billig geworden: Schon für 25 € ist ein ordentliches Zimmer in einem der kleineren Hotels zu haben, und in einem größeren an der  Strandpromenade für 50 €. Handeln heißt die Devise. Die Restaurants sind leer, die Preise niedrig, der Service aufmerksam und schnell. Probieren Sie Tajin, eine Art von Ragout mit verschiedenen Gemüsen und Gewürzen. Es gibt unzählige Rezepte dafür, schmeckt jedes Mal anders und kann sehr lecker sein.

Unbehelligt können Sie durch die Stadt bummeln. Sie werden nicht auf Schritt und Tritt auf Touristen treffen wie fast überall sonst. Französische oder Spanische Sprachkenntnisse sind nützlich, aber nicht notwendig. Nicht wenige Marokkaner können Deutsch. Es gibt viel zu sehen, aber man muss nicht alles gesehen haben. Lassen Sie sich Zeit, öffnen Sie Ihre Sinne!

Vom kanonenbestückten Place de Faro am Boulevard Pasteur hat man einen großartigen Blick auf die Altstadt  und die Befestigungsanlagen, sowie auf das traditionsreiche Hotel Continental. Nebenan, in der Rue Khalid Ibn Oualid No 9, befindet sich das Restaurant „Les Citoyens de Tanger“. Der Inhaber Hans Tischleder weiß so ziemlich alles über Tanger. Er hat über  die Stadt Ausstellungen gemacht und ein Buch geschrieben. Zum lärmenden Grand Socco, Marktplatz am Rande der Medina, ist der Weg nicht weit. Hier befindet sich die Moschee Sidi Bou Abid, die  Anglikanische Kirche, die ehemalige Deutsche Botschaft und die Gärten der Mendoubia, der alten Residenz des Sultans. Durch das Haupttor Bab Fah und die lebhafte Rue Siaghine – mit der Spanischen Katholischen Kirche -, gelangt man zum berüchtigten Petit Socco, wo einst Schmuggler, Dealer  und Zuhälter ihre Geschäfte abwickelten, und auch jetzt noch ein buntes Treiben herrscht. Von hier aus sollte man sich auf Entdeckungsreise in die kleinen winkligen Gassen der Kasbah begeben. Wer sich verläuft, findet immer einen netten Menschen, der einem den Weg weist. Nicht versäumen sollte man das Musée de la Kasbah, das viele kunsthandwerkliche und archäologische Schätze birgt. Ansonsten möchte ich mir und dem Leser ersparen, die vielen Sehenswürdigkeiten aufzuzählen. Das Eigentliche in dieser Stadt ist, die Atmosphäre zu erfühlen, sich den Farben, Gerüchen, Geräuschen hinzugeben, der einzigartigen Geschichte nachzuspüren. Dann ist Tanger mit seinem morbiden Charme auch heute noch eine magische Stadt.

 Und zum Schluss doch noch ein Tipp: Fahren Sie mit einem der billigen Taxis zum Café Hafa, einem alten ruhigen und stimmungsvollen Terrassen-Café hoch über der Steilküste. Sie werden Bowles recht geben, der diesen Ort als einen der schönsten Winkel Tangers bezeichnete. Ja, und machen Sie einen Ausflug zum Kap Malabata und zum Kap Spartel: Herrliche Aussichten erwarten Sie.

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                            Heiko Trurnit