ARGENTINIEN Manchmal geht man in
ein Land, das man vielleicht sonst nie gesehen hätte, aus einem
besonderen Anlass. Im Rahmen meiner Ahnenforschung hatte ich Verwandte
in Argentinien entdeckt und zusammen mit meiner Frau Gitti beschlossen,
ihnen einen Besuch abzustatten. Argentinien ist
riesig. Vom 8. November bis 9. Dezember 1999 fuhren wir 7200 km mit dem
Mietwagen (davon fast 1000 km auf nicht asphaltierten Straßen), und
flogen innerhalb Argentiniens noch mal fast 3000 km. Buenos Aires - eine
gewaltige, durch den wahnsinnigen Verkehr gewalttätige Stadt! Mit
Vororten über 12 Millionen Einwohner, die sich alle in dem engen
Zentrum zu drängen scheinen. Fast ein Drittel aller Argentinier wohnt
hier. Endlose Hochhaus-Landschaft, superbreite Avenidas, enge Häuserschluchten,
vornehme Parkwohnviertel, trostlose Vorstädte, traurige Slums... Aber
auch interessant. Europäisch, großstädtisch, südländisch-temperamentvoll,
morbide, großenteils allmählich verfallend. Die großen Zeiten
(1880-1930) sind längst vorbei. Und überall verfolgt einen der
Tango... Mit unserem GOL (vom
VW Golf wie von seinem Namen hat man in der argentinischen Version den
hinteren Teil des Wagens abgeschnitten) ging’s zunächst zu den
Badeorten - etwa Pinamar - am Atlantik (die uns allerdings noch recht kühl
empfingen), dann zur Habinsel Valdès, um erfolgreich Wale,
See-Elefanten, Seelöwen aus der Nähe zu beobachten, zu den einzigen
Pinguin-Festland-Kolonien Punta Tombo und Cabo Dos Bahias, dann über
Commodore Rivadavia und die versteinerten Wälder von Sarmiento nach
Nueva Lubecka zu unserem Verwandten Juan Juan lebt mit seiner
Frau Norma und seinem Sohn
Carlitos, der mit 3 Jahren sein erstes Pferd bekam und nun mit 12 Jahren
(und der Statur eines 16jährigen Rugby-Spielers, der er auch ist)
bereits den großen Pickup seines Vaters lenkt, einigen Viehtreibern, über
9000 Schafen, 60 Pferden, einigen Hunden, 600 scheuen Guanakos
(Lama-Art), Strauß-Vögeln, Andengänsen, Gürteltieren, Füchsen,
Hasen usw. auf seinen 35 000 Hektar Grund (die Stadt München besitzt 31
000 Hektar), ein hartes Leben in der windgepeitschten dürren
patagonischen Pampa. Wasser, nicht für jeden bekömmlich,
pumpt ein Windrad aus dem Boden, Strom erzeugt bei Bedarf ein
Diesel. Gekocht wird mit Kerosin. Juans Briefkasten
ist in dem kleinen Ort Gobernador Costa, 86 km von seiner Estancia
entfernt. Da dort auch weit und breit keine Schule ist, kaufte Juan 1992
ein schönes kleines Holzhaus in Esquel das während der Woche von Norma
und Carlitos bewohnt wird. Jedes Wochenende fahren die beiden die 250 km
zur Estancia. Manchmal besucht Juan sie während der Woche. Ein aufregendes
Erlebnis für uns war es,
bei der Schafschur zuzusehen. Eine Kolonne von 10 Scherern und noch
einmal soviel Hilfskräften machte sich auf der Nachbar-Estancia über
15 000 Schafe her, die in 12 Tagen von ihrem Fell befreit werden
sollten. Da flogen die Fetzen... (die Woll-Wolken). Durchschnittlich
bringt 1 Schaf 4,2 kg Wolle. Der Wollpreis ist seit Jahren im Keller -
derzeit bei 1,85 Dollar je kg gegenüber früher 4 Dollar/Pesos. So
verkauft Juan zusätzlich jährlich etwa 500 Schafe an den Schlachter um
sein Einkommen zu verbessern. Als wir kamen, hatte
Juan mit seinen Männern gerade 2800 Schafe in 6 Tagen mit fünf
Pferden, den Hunden und einem Pickup über 90 km auf die höher
gelegenen Sommerweiden getrieben - das ist fast wie das alte
Gaucho-Leben. Juan („nie hätte
ich gedacht, dass mich mal ein Trurnit besuchen kommt“) kutschierte
uns zunächst dreieinhalb Stunden auf seinem Grund und Boden über Wege,
Stege, Dornenfelder, Hügel und Ebenen zu Indianerzeichnungen,
Indianergräbern und Guanako-Herden, dann am nächsten Tag auf
abenteuerlichen Schotterwegen in die Berge, zu malerischen Seen,
schluchtartigen Tälern, bis wir als Gegensatz zur dürren Pampa die grüne
wilde Bergwelt Patagoniens genügend verinnerlicht hatten. Unterwegs
begegnete uns u.a. eine Rinderherde, die von Berittenen offenbar
ebenfalls in mehreren Tagesmärschen zur
Sommerweide getrieben wurde. Nach dem Abschied
von Juan waren die Naturparks in den argentinischen Anden das nächste
Ziel. Auf Sandwegen und Schotterstraßen, dann wieder besten Asphalt,
ging es nach El Bolson, der Stadt der inzwischen in die Jahre gekommenen
Hippies, und nach San Carlos de Bariloche, dem Haupturlaubsparadies der
argentinischen Anden, das allerdings so kurz vor dem Sommer ruhig war.
Der Hauptandrang herrscht hier im Winter, wenn die Skifahrer kommen. Die
Berg- und Seenlandschaft ist herrlich – die Aussicht vom Berg Cerro Lòpez
phantastisch. Die
Hauptattraktion Bariloches ist allerdings das unvorstellbar reichhaltige
Schokoladen-Kaufhaus „Del Turista“ ... Weiter ging’s über
die abwechslungsreiche, mit immer neuen wunderschönen Ausblicken verwöhnende
Route der sieben Seen nach San Martìn de los Andes, einem Kurort für
die Oberen Zehntausend, nach Junin de los Andes und dann wieder in die
Pampa; aber nun in die reiche, die fruchtbare: Unübersehbare
Weizenfelder, unzählige Rinderweiden. Und nicht endende Straßen, über
hundert Kilometer ohne Kurve; kaum dass einem mal ein Fahrzeug entgegen
kommt. Ein unerwartetes
Erlebnis hatten wir in der Provinzmetropole Neuquen: Als wir ankamen strömte
die ganze Stadt in blau-gelb-blauen T-Shirts, mit blau-gelb-blauen
Narrenkappen, mit blau-gelb-blauen Fahnen zum Hauptplatz, um dort mit
Trommeln und Trompeten, Pfeifen, Hupen und röhrenden Auspuffen zu
feiern und unablässig den „La-Boca“-Song zu intonieren: La Boca,
die Fußballmannschaft aus Buenos Aires’ Armenviertel, der Verein
Diego Maradonas, war „Campeador“ geworden, hatte es den Geldsäcken
wieder einmal gezeigt. Und ähnlich wurde im ganzen Land
gefeiert, stundenlang kannten die Fernsehkanäle kein anderes Thema.
Eine Woche später war das Buch „La Boca Campeador“ ein Bestseller.
La Boca - das ist eine Weltanschauung. Am Ende der
Autofahrt lag wieder das Meer, das sich inzwischen merklich erwärmt und
die ersten Badegäste angezogen hatte. Ein paar schöne Tage am weiten
Strand - sonnen, Muscheln sammeln, den guten argentinischen Wein genießen... Weil wir so gut
vorangekommen waren, blieben noch ein paar Tage für ein besonderes
Abenteuer - eine Flugreise
zu den breitesten Wasserfällen der Welt, nach Iguazù im allernordöstlichsten
Zipfel Argentiniens. Hier, im Dreiländereck
Brasilien/Paraguay/Argentinien, donnern mitten im subtropischen Urwald
gischtend und ohrenbetäubend so gewaltige Wassermengen in die Tiefe, daß
man sich nur noch irgendwo festhält, weil man das Gefühl hat,
mitgerissen zu werden. Ein unvergleichliches Schauspiel. „Arme
Niagara-Fälle...“ soll Nancy Reagan gesagt haben. Hanno Trurnit
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