Märchenland Marokko – Der Norden

 

 

Meine erste Reise die ich außerhalb von Europa machte -  ich glaube es war 1970 -  führte mich in den Maghreb, den Norden Afrikas. Es war für mich  ein Erlebnis das mein Leben verändert hat. Unvorbereitet wurde ich mit einer völlig anderen Zivilisation  konfrontiert die Vieles in Frage stellte was mir meine konservative mitteleuropäische Erziehung als Werte vorgegeben hatte. Es war wohl der entscheidende Wendepunkt in meinem Leben wo ich anfing über den Tellerrand der  nationalen Konventionen hinaus zu blicken.

Ich war so begeistert – ich weiß nicht war es der Charme der Menschen, das warme Licht, die berauschenden Gerüche, die zum Teil spröde aber immer wieder überwältigende Landschaft, die unglaubliche Schönheit der  märchenhaften Paläste und Moscheen -  dass ich eine Möglichkeit suchte und fand  dort zu arbeiten und zu leben. Ich blieb ganze sechs Jahre. Und seither zieht es mich immer wieder mal zurück, obwohl ich in der Zwischenzeit Länder in Asien  kennen gelernt habe, die ebenso das Gefühl tiefer Sehnsucht in mir erwecken, wenn ich nur den Namen höre.

Das faszinierendste Land in Nordafrika ist für mich das mit den größten Gegensätzen: Marokko . Hätte nicht Herkules, der griechische Halbgott, Sohn des Zeus – wie die Sage geht – mit einem mächtigen Keulenschlag Europa von Afrika getrennt und so die Meerenge von Gibraltar geschaffen, gehörte Marokko heute vermutlich zu Europa, wozu die Geologen es sowieso rechnen, zumindest das Gebiet nördlich des Atlas-Gebirges. Die spanischen und französischen Einflüsse  sind wesentliche Elemente im Erscheinungsbild des Landes. Auf der anderen Seite wirkt Marokko auf den europäischen Besucher exotisch und geheimnisvoll, und in ländlichen Gegenden manchmal noch archaisch.

Es gab archäologische Funde im Land, die belegen dass schon die Neandertaler die Gegend besiedelt haben. Ansonsten ist die Vorgeschichte wenig erforscht. Kamen die ersten Siedler aus Palästina oder die Nomaden von Süden am Meer entlang ?  Sowohl der mediterrane als auch der negroide Menschentyp ist verbreitet, sowie Mischlingsformen. Der Ursprung der gemeinhin als Urweinwohner bezeichneten Berber, die sich in drei große ethnische Familien aufteilen,  befindet sich im mythischen Dunkel..

In die Geschichte eingetreten ist der Norden Marokkos im 6. Jahrhundert v. Chr. durch Aufzeichnungen der Phönizier, die zu dieser Zeit an der nordwestlichen Küste Afrikas Handel trieben bis hinunter nach Essaouira. Nach den Phöniziern kamen die Karthager, dann die Berber Ägyptens und Tunesiens, die Römer, die Vandalen, die Byzantiner und die Araber.  Letztere übten den größten Einfluss aus, islamisierten sie doch das Land innerhalb kürzester Zeit und rekrutierten im Maghreb ihre Heerscharen um die iberische Halbinsel zu erobern. Unter der Herrschaft der Dynastien der Almoraviden, Almohaden und Meriniden  genoß Marokko vier Jahrhunderte lang die wirtschaftliche und kulturelle Blütezeit der grandiosen maurisch-arabisch-andalusischen Zivilisation. Ab dem 15. Jahrhundert  wurde das Land, mit seiner Hafenstadt Tanger, dem Tor zu Europa, zum Spielball europäischer Interessen.  1955 mussten die Franzosen nach blutigen Unruhen den ins Exil geschickten Sultan Mohammed V,   einen Nachfahren des Propheten aus der Dynastie der Alaouiten,  wieder einsetzen  und im folgenden Jahr wurde Marokko unabhängig. Ihm folgte sein Sohn Hassan II auf den Thron und  nach dessen Ableben  der jetzige König Mohammed VI, der wie sein Vater bestrebt ist, das Land  politisch und wirtschaftlich weiter zu öffnen.

Kürzlich hatte ich die nach längerer Zeit Gelegenheit, das Land wieder einmal zu besuchen, diesmal auf einer Städtereise von Casablanca nach  Fes: Die Gegensätze sind größer denn je.

CASABLANCA:

 Im Vergleich zu den Königstädten  hat Casablanca so gut wie keine Geschichte. Sie ist die wirtschaftliche Metropole, die  zukunftsorientierte Stadt, die Vision von Fortschritt und Technologie , ein pulsierendes dynamisches Konglomerat. Großzügige Avenuen, Verkehr, Banken  und Geschäfte bestimmen das Bild, das man am besten in sich aufnimmt abends nach 20 Uhr am Place Mohammed V., wo sich um einen farbenprächtig angestrahlten Brunnen ein Paar der schönsten Gebäude der Stadt gruppieren.

Das Wahrzeichen der Stadt und der ganzen Nation aber ist die gewaltige Moschee direkt am Meer, für die Imams und staatliche Organe jahrelang gesammelt haben um sie ihrem König Hassan II, der ihr auch den Namen gegeben hat, zum 60. Geburtstag zu schenken: Mit 3000 Handwerkern wurde eine Ehrfurcht erweckende  architektonische Meisterleistung  geschaffen, die Tradition  und Moderne  erhaben vereint. Die Moschee bietet 25 000 Gläubigen Platz und ist die drittgrößte der Welt - nach  denen von Mekka und Medina.  Das Minarett  ragt 200 m in den meist azurblauen Himmel.

Sehr schön ist die Corniche südlich der Stadt mit vielen Hotels, Restaurants, Cafés und

ins Meer gebauten Schwimmbecken. Sehenswert sind auch die hochherrschaftlichen Villen  der vielen saudischen Prinzen, die hier residieren.

RABAT:

Wenig Touristen sieht man in der Hauptstadt Marokkos wenn man von den Busladungen absieht die  kurz ausgeschüttet und dann schnell wieder eingesammelt werden. Pech für sie. Denn diese Stadt, die sich majestätisch über die Mündung des Flusses Bou Regreg erhebt, hat viel Atmosphäre , und direkt an der Stadt und gegenüber in Salé sind saubere Strände,  sodass man  hier einen interessanten und gleichzeitig erholsamen  Urlaub verbringen kann. Es gibt viele preiswerte Hotels in der Innenstadt und natürlich elegante wie das etwas außerhalb im Grünen gelegene Hilton.

Ungemein stimmungsvoll ist ein Spaziergang bei Sonnenaufgang am golden schimmernden Fluss  entlang  - vom Place  Sidi Maklouf  bis zur 6o m hoch aufragenden Oudaia- Kasbah  mit ihren mächtigen Mauern, erbaut im 12. Jahrhundert zur Verteidigung gegen Piraten. In der Kasbah  befindet sich das Nationalmuseum marokkanischer Kunst mit seltenen Musikinstrumenten, Berberschmuck, Töpferwaren und prachtvollen Teppichen. Nebenan kann man sich in einem herrlichen andalusischen Garten bei einem Minztee von den Strapazen der Besichtigung erholen.

Vom ebenfalls im 12. Jahrhundert  begonnenen Bau der Hassan-Moschee mit einem Grundriss von 183 x 139 m (!!)  wurde ein Teil der 312 Säulen restauriert. Sie stehen auf einem weiträumigen die Stadt überblickenden Platz um das mit 44 m Höhe unvollendete Minarett, dem Hassan-Turm. Gegenüber befindet sich das marmorne Mausoleum von Mohamed V, dem Großvater des jetzigen Königs. In  der Mitte des reich verzierten  ansonsten leeren Saales  ruht  der Grabstein aus weißem Onyx. Eins von vielen Bildern das sich für immer einprägt.

MEKNES:

Umgeben von Zedernwäldern und Olivenhainen war Meknes ursprünglich nur eine Ansammlung von Dörfern. Im 17. Jahrhundert erhob es Sultan Moulay Ismail zu seiner Residenzstadt . Er setzte 30 000 schwarze Sklaven ein und Tausende christlicher Gefangene um drei Mauerringe mit 25 km Länge – andere Quellen sagen: 40 km -  die die Medina umschlossen. Er versah sie mit 20 monumentalen Toren, von denen Bab El Mansour am meisten besticht durch seine Größe ebenso wie durch seine Pracht. Mindestens genau so produktiv wie im Bauen soll der Sultan auch auf einem anderen Gebiet gewesen sein: Es ist überliefert, dass er über 500 Söhne gezeugt hat – die Töchter wurden wie im Islam üblich gar nicht erst erwähnt. Das Grabmoschee dieses Regenten, eine der großen Figuren der Geschichte des Landes, der die Engländer vertrieb und den Türken Widerstand bot, steht auch den „Ungläubigen“ zur Besichtigung offen. Als ich dort war, allerdings nicht.

Die Sehenswürdigkeit die mich am meisten beeindruckt, ist das Wasserschloß Dar el-Ma, das als Sinnbild des Übermaßes dieser Stadt gelten kann. Die drei Meter starken Mauern  mit 12 Metern Höhe umfassen einen ehemaligen Getreidespeicher für 12 000 Pferde. Das Dunkel der Gewölbe mit seinen Mauerfluchten und Torbögen wird durchbrochen vom schwachen Lichteinfall einer Öffnung in der Decke, die entstanden ist beim großen Erdbeben von 1755, das Lissabon zerstört und bis zum Senegal gewütet hat. Man verstummt in Faszination von der überwältigenden Wirkung dieses Bauwerks, unter dem sich auch noch 40 Meter tiefe Zisternen befanden, die einerseits für die Kühlung des Getreidespeichers sorgten und andererseits die Wasserversorgung der Ville Imperiale sicherstellten.

VOLUBILIS:

Auf einer schönen Fahrt durch hügeliges Gelände mit alten Olivenhainen kommt man zu den Ruinen von Volubilis. Schon im 3. Jh. v. Chr. eine karthagische Siedlung, errichteten die Römer hier das Verwaltungszentrum ihrer Provinz Mauretania, die nichts mit dem heutigen Mauretanien zu tun hat sondern das Gebiet von Nordmarokko umfasste. Es sind zwar die bedeutendsten römischen Ruinen im Lande, aber obwohl die einstmals 20 000 Einwohner zählende Stadt noch viele Jahrhunderte nach Abzug der Römer besiedelt war, und sich sogar die lateinische Sprache hier erhalten hatte, ist von der einstigen Pracht nicht viel übrig geblieben. Hat doch Moulay Ismail Alles wegtragen lassen was er für seine monumentalen Bauten in Meknes brauchen konnte. Es stehen aber noch der Triumphbogen, ein gut erhaltener Teil der Basilika und die Säulen des Forums, die jetzt den Störchen als Nistplatz dienen. Liebevoll restauriert und beschriftet sind die Grundrisse der Häuser, sodass man doch einen guten Eindruck davon bekommt, wie die Menschen hier gelebt haben.

 Eine ganze Strasse der Stadt bestand aus Mühlen für Olivenöl, das der Stadt den Wohlstand verschafft hatte. Davon zeugt auch das gut erhaltene Fundament einer Ölpresse, und am Eingang zum Gelände ein Mühlstein mit Rad. Übrigens wenn man Glück hat, kann man auf  der Fahrt durch die hügeligen Olivenhaine mitten zwischen den Bäumen noch mittelalterliche Mühlen antreffen, deren Rad durch einen Esel  gezogen wird.

FES:

Die königlichste aller Königsstädte, die Unvergleichliche, die Widersprüchliche,  wurde im 9. Jahrhundert Mittelpunkt nicht nur des Reiches sondern durch die  Karaouine-Moschee über Jahrhunderte hinweg das Zentrum islamischen Glaubens und Wissens für den gesamten maghrebinischen Raum. Denn die Freitagsmoschee war  die zweitälteste Universität der Erde, wo die berühmtesten Wissenschaftler ihrer Zeit bis zu 8000 Studenten aller Fakultäten unterrichteten. Ihre Gelehrten sind auch heute noch die oberste Instanz in Fragen des Glaubens. Im Jahre 818 hatten sich etwa 300 Familien aus Kairuan hier niedergelassen, ein paar Jahre vorher auf der anderen Seite des Flusses Fes mehrere hundert Familien, die aus Andalusien geflohen waren, wodurch zwei Stadtteile entstanden, die lange Zeit miteinander rivalisierten.  Zur Bevölkerung hinzu kamen Juden, Berber und die Sklaven der Haratin. Die maurisch-andalusische Kultur, die die aus Spanien geflohenen Araber mitbrachten , hat unzählige Prachtbauten geschaffen, in denen sich klare Architektur mit geschnitztem Zedernholz und tausendfach wiederholten und variierten abstrakten  geometrischen oder stilisierten Flächenmustern aus Mosaiken und Stuckornamenten zu wahren Meisterwerken der Baukunst vereinen. Die wichtigsten sind neben der Karaouine- und der andalusischen Moschee die Grabmoschee des Stadtgründers Moulay Idriss II, die einstigen Karawansereien (Fuduq oder Fondouk) sowie die zahlreichen ehemaligen Hochschulen, die den Studenten auch als Unterkunft dienten.  Die bedeutendsten und besonders reich verzierten sind die Medersa (d.i.Hochschule) Bou Inania und die Medersa Attarine, die heute als Museum dienen und besichtigt werden können.  Außerdem  gibt es Hunderte von prächtigen Palästen, einige davon wie z.B. das „Riad Fes“ liebevoll zum Hotel umgebaut.

Den schönsten Blick auf die Medina hat man zwei Aussichtspunkten: Morgens vom Borj Sud und abends von den Merinidengräbern  im Norden. Wenn man da auf das ruhige Dächermeer hinunterblickt, kann man sich nicht vorstellen, welches Treiben da unten herrscht. Denn die Altstadt ist kein Museum , Hunderttausende Menschen leben in ihr. Und das Leben hat sich hier  auch  in den dreißig Jahren  in denen ich es kenne,   kaum verändert. Die Frauen sind nach wie vor verschleiert, in den Handwerkergassen  wird  immer noch mit den einfachsten Werkzeugen gearbeitet, der Esel ist das Transportmittel schlechthin, die Kinder holen das im Haushalt benötigte Wasser am Brunnen der Gasse, und die Mütter bringen die Teigfladen in die Backstube ihres Wohnviertels, das für den Fremden tabu ist. In den Souks preisen die Händler lautstark ihre Waren an. Man hört Weberschiffchen klappern und das Hämmern der Kupferschmiede.  Aus den offenen Fenstern der - nichtstaatlichen -Koranschulen klingen die hellen Stimmen der Vorschulkinder, die unablässig die Suren des Korans wiederholen. Man nehme sich Zeit und Muße in dieses Labyrinth von Gässchen, Treppen, Durchgängen und Gewölben einzutauchen und die faszinierenden Bilder, Gerüche und Geräusche in sich aufzunehmen. Man muss allerdings allein gehen mit einem Führer und nicht in der Gruppe , sonst wird es kein  Erlebnis werden, sondern eher eine Qual wegen der Souvenirverkäufer.

Wollten Sie schon mal eine Zeitreise machen?  Die Höfe der Gerbereibetriebe versetzen Sie in tiefstes Mittelalter! In den bienenwabenartig angelegten Trögen werden Tierhäute gewässert und  mit scharfen Laugen behandelt, in denen Männer und Jugendliche den ganzen Tag arbeiten, um die scharfen chemischen Zusätze – auch Taubenkot ist beigemengt - mit ihren bloßen Beinen zu verrühren, die Häute  weich zu treten und auszuwringen. Ein bestialischer Gestank durchdringt die Luft. Das Einzige was sich seit dem Mittelalter verändert hat außer den Zusätzen, ist, dass es keine ganz oder fast nackten Kinder mehr sind, die die Arbeit verrichten. Heute sind es Saisonarbeiter, die sich umgerechnet ein paar Euro am Tag verdienen.

Zwei Kilometer weiter winkt die Neuzeit mit all ihren Annehmlichkeiten: Die moderne Stadt mit breiten Avenuen, Hotels die jeden Wunsch erfüllen, elegante Geschäfte, schicke Restaurants,  attraktive  westlich gekleidete Frauen.

Fes das sind  zwei Zeitebenen .

 

UND SONST:

Nur ein paar Stichworte konnte ich geben von einem märchenhaften Land, ein paar Namen, Zahlen. Noch Nichts habe ich erzählt von den Gebirgen, von den Küsten, vom ganz anderen Süden , von Wüsten, Lehmburgen und fruchtbaren Oasen. Bücher könnte man allein schon schreiben über das köstliche Essen, über das  Nationalgericht Tajin z.B., einer Art von Ragout mit verschiedenen Fleisch-  und Gemüsesorten, für das es unzählige Rezepte gibt und das jedes Mal anders schmeckt aber immer lecker, sowie über die verführerischen  süßen Gebäcke.

 

Für Marokko braucht man Vorbereitung und Zeit. Und man muss seine Sinne ganz weit öffnen um sich hinzugeben der Architektur einer großartigen Vergangenheit , der Musik, dem Licht, den Farben, der Natur, den Stimmungen.

  Hat man wenig Zeit, sollte man sich beschränken auf ein Thema oder eine Region. Eine viertägige Reise durch die Königstädte, wovon täglich vielleicht noch drei Stunden beim Teppichhändler verbracht werden, ist ziemlich sinnlos. Für Fes allein sollte man sich mindestens drei Tage gönnen.

Marokko ist das ganze Jahr geöffnet. Für die Wintermonate bietet sich der Süden an, für den Norden sind der März bis Mai die beste Reisezeit, wenn die Bäume blühen , und es noch nicht so heiß ist, aber auch Juni bis Oktober sind schön. Französische oder Englische Sprachkenntnisse sind nützlich, aber nicht notwendig. Ideal ist Marokko mit dem Auto zu bereisen: Mietwagen sind allerdings teuer. Man kann sich von Sète in Frankreich einschiffen oder von Algeciras oder Tarifa in Spanien  mit der Fähre übersetzen.

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Heiko Trurnit